Seite 46-47 - KLINIKTICKER 01

Basic HTML-Version

46
Aus Forschung und Lehre
Aus Forschung und Lehre
47
„Die Soldaten sind mit ihren Waffen
einfach ins Dorf marschiert“
SEIT FAST 30 JAHREN ARBEITET DER TIBETER TSERING NGODUP ALS
KRANKENPFLEGER IN DER MEDIZINISCHEN KLINIK. EINE RÜCKKEHR IN SEIN
HEIMATLAND KOMMT FÜR IHN DERZEIT NICHT IN FRAGE
Z
ehn Jahre war Tsering Ngodup alt, als er seine Heimat Tibet verlassenmusste. Mit seiner Familie floh
er damals über Nepal nach Indien, dort arbeitete er als Bibliothekar in der Stadt Dharamsala, demSitz
der tibetischen Exilverwaltung und des Dalai Lama. Seit den 80er Jahren lebt und arbeitet Ngodup in
Heidelberg, in diesem Jahr feiert er sein 30-jähriges Jubiläum als Krankenpfleger in der Medizinischen Kli-
nik – obwohl ein pflegerischer Beruf für ihn früher überhaupt nicht vorstellbar war.
Erinnern Sie sich noch an die Flucht aus Ihrer
Heimat?
Meine Familie hielt Yaks, Schafe und Ziegen und
bestellte ein Stück Land. Das war ein Paradies für einen
kleinen Jungen wie mich. Dann hörten wir aus dem
Osten des Landes Gerüchte über zerstörte Klöster,
Erschießungen und die Verbrennung kirchlicher Wür-
denträger. Dennoch kamen die Soldaten für uns völlig
Tibet, ein ausgedehntesHochland inZentralasien, besaß bis ins 20. Jahrhundert ein eigenes Staatswesen. Aus
Sicht der chinesischen Regierung gehörte Tibet aber bereits seit dem 7. Jahrhundert zu China. Diesen
Anspruch machte China 1950 geltend, als die chinesische Armee in Tibet einmarschierte. Diese Machtüber-
nahme war und ist international jedoch umstritten. Dalai Lama („ozeangleicher Lehrer“) wird seit 1578 der
höchste Meister des tibetischen Buddhismus genannt, der als geistiges Oberhaupt verehrt wird. Der gegen-
wärtige 14. Dalai Lama heißt Tendzin Gyatsho, dem im Jahre 1950 im Alter von 15 Jahren die Regierungsge-
schäfte übertragen wurden. Neun Jahre nach dem Einmarsch Chinas flüchtete er ins indische Dharamsala,
wo im selben Jahr die Tibetische Exilverwaltung gegründet wurde. Sie wird international nicht anerkannt,
erhält aber finanzielle Unterstützung durch andere Länder und Organisationen. Sein politisches Amt legte
der Dalai Lama, dermeist mit „SeineHeiligkeit“ angesprochenwird, erst 2011 nieder. Bis zu seinemTod bleibt
er jedoch spirituelles Oberhaupt der Tibeter.
Drei Fragen an Tsering Ngodup
Tibet und der Dalai Lama
„Ich wäre gerne Lehrer geworden“, erzählt er. Nach sei-
nemSchulabschluss wurde er jedoch auf Anordnung der
Exilverwaltung zum Bibliothekar ausgebildet. Zusätz-
lich gab er Sprachunterricht für westliche Besucher. „Es
war die Hippiezeit, viele kamen und waren am Dalai
Lama und an unserer Kultur interessiert.“ Darunter
auch die Bonner Studentin Doris Widdra, seine heutige
Frau. 1975 heirateten die beiden, zwei Jahre später
zogen sie nach Deutschland. Vieles hat sich seither ver-
ändert. Sogar der Name: In Tibet nannte er sich nur
Ngodup, in Deutschland werden Vor- und Nachname
verlangt. Der gemeinsame Sohn wurde in Deutschland
geboren, zwei kleine Enkeltöchter gehören mittlerweile
zur Familie.
Ngodup ist Buddhist, seine Lebensphilosophie über-
trägt sich auch auf seine Arbeit in der Kardiologie. Mit
seiner angenehmen, ruhigen Art und seinem feinen
Humor geht er offen auf Patienten zu. „Ich habe den Ein-
druck, dass sich die Patienten in meiner Gegenwart
recht wohl fühlen.“
Auch wenn Ngodup mittlerweile in Heidelberg zuhause
ist: Tibet lässt ihn nicht los. 1979 gründete er zusammen
mit anderen Exiltibetern den „Verein der Tibeter in
Deutschland“, 1989 entstand daraus die „Tibet Initiative
Deutschland“, für die er sich bis heute zusammen mit
seiner Frau engagiert. Stand anfangs noch die Rückkehr
der Tibeter in ihre Heimat im Vordergrund, setzt sich
die Initiative heute hauptsächlich für die Einhaltung der
Menschenrechte imLand ein. Denn die Lage in Tibet ist
verzweifelt: Mit Gewalt unterdrückt das kommunisti-
sche Regime Chinas Kultur, Religion und Sprache,
nimmt den Menschen jedes Selbstbestimmungsrecht.
Verschleppung und Folter ohne rechtliche Grundlage
sind an der Tagesordnung. Inzwischen haben sich 123
Tibeter öffentlich selbst verbrannt – für sie ein letzter
Ausweg und ein grausames Zeichen dafür, wie sehr die
Menschen dort leiden. 
–Heike Dürr
überraschend und über Nacht. Sie sindmit ihrenWaffen
einfach ins Dorf marschiert. Beamte wurden einge-
sperrt, dieMönche flohen. Auchmeine Familie flüchtete
nach Nepal. Dort lebten wir fast zwei Jahre ohne
Lebensgrundlage und Perspektive. Dann zogenwir nach
Indien weiter in der Hoffnung, dort die Schule besuchen
zu können. Wir schleppten unser Hab und Gut auf
gefährlich steilen Fußwegen über hohe Pässe. Ich selbst
hatte ein kleines Kind zu tragen. Ich erinneremich zwar
noch gut an die Strapazen, nicht aber an die ständig dro-
hende Lebensgefahr.
Wie leben Sie Ihren buddhistischen Glauben und die
tibetischen Traditionen heute und fernab der
Heimat?
Anfangs waren wir nur 30 Tibeter in Deutschland. Das
war schon schwierig. Mittlerweile ist es hier vermutlich
einfacher, unsere Traditionen zu leben als in Tibet
selbst. Viele der Klöster dort wurden zerstört, die meis-
ten Mönche leben ebenfalls im Exil. Daher versuchen
wir mit der „Tibet Initiative Deutschland“, auf die Situa-
tion der Menschen aufmerksam zu machen. Mit Aktio-
nen und Vorträgen informieren wir über die Kultur
Tibets. Das halte ich für wichtig, denn die Tibeter haben
mittlerweile zwar die Sympathie der Welt gewonnen –
nicht aber deren Unterstützung.
Können Sie sich vorstellen, noch einmal nach Tibet
zu reisen?
Das kommt für uns derzeit nicht in Frage. Selbst wenn
ich eine Einreisegenehmigung bekäme, würde ich auf-
grund meines Engagements vermutlich im Gefängnis
landen. Das möchte ich nicht riskieren. Sollte sich die
Situation in Tibet jedoch zum Positiven verändern,
würde ich gerne noch einmal zurückkehren. Auch wenn
ich davon ausgehe, dass nichts mehr so ist, wie ich es in
Erinnerung habe.
Tsering Ngodup ist seit 30 Jahren Krankenpfleger in der Medizinischen
Klinik