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Der lange weg zur diagnose
„Pro Jahr 1.200
neue Patienten in
der Poliklinik“
Frau Dr. Moog, Sie leiten die Genetische Poliklinik, bieten mit
ihren Mitarbeitern zahlreiche Sprechstunden an. Mit welchen
Fragen und Problemen können sich Menschen an Sie wenden?
Dr. Ute Moog:
Wir sind verpflichtet, jede Frage zu einer potenzi-
ell genetischen Erkrankung zu beantworten. Es gibt zwei
Schwerpunkte: Das sind onkogenetische Sprechstunden, vor
allem zur Beratung und Diagnostik von erblichem Brust- und
Darmkrebs, und Sprechstunden zur Abklärung von kindlichen
Entwicklungsstörungen und geistiger Behinderung, meinem ei-
genen Forschungsgebiet. Wir bieten auch interdisziplinäre
Sprechstunden zu anderen Themenbereichen an, z.B. zu Infer-
tilität, Amyloidose oder kardiogenetischen Erkrankungen.
Wie viele Ratsuchende richten sich pro Jahr an Sie?
In den letzten Jahren hat sich Zahl der Menschen, die zu uns
kommen, stetig vergrößert. Pro Jahr beantworten wir derzeit die
Fragen von über 1.200 Einzelpersonen, Paaren oder Familien,
die neu zu uns kommen.
Sie sind auch in der Ausbildung sehr engagiert.
Ja, wir bieten beispielsweise ein Praktisches Jahr in der Human-
genetik an, was in Deutschland nur bei wenigen Instituten der
Fall ist. Bei uns können sich Interessierte auch vollständig zum
Facharzt für Humangenetik weiterbilden lassen.
Wagen Sie am 50. Geburtstag Ihres Instituts einen Blick in die
Zukunft der Genetischen Poliklinik?
Wir freuen uns auf unseren Umzug in den Neubau der Frauen-
klinik im kommenden Jahr. Wir sind von einer Beratungsstelle,
zu der vor allem Eltern von betroffenen Kindern und Schwange-
re bei Problemkonstellationen überwiesen wurden, zu einem
klinischen Fach geworden, das ein Knotenpunkt in der Medizin
ist. Mit unserem neuen Standort unmittelbar neben der Kinder-
klinik werden wir unsere klinischen Aufgaben noch besser ent-
falten können. Was auch dort zweifelsohne erhalten bleiben
wird, ist unser starker Teamgeist und die gute Zusammenarbeit
mit den Kollegen in den diagnostischen Laboren des Instituts.
Trotz allem sind die Eltern froh,
endlich Gewissheit
zu haben
Der lange Weg zur Diagnose: Bis bei dem 4-jährigen Jan das Cohen-
Syndrom diagnostiziert wurde, waren mehrere Untersuchungen notwendig
Die Genetische Poliklinik in Hei-
delberg ist eine der größten natio-
nalen Einrichtungen ihrer Art. PD
Dr. Dr. Ute Moog und ihre Mitar-
beiter bieten genetische Diagnos-
tik und Beratung in vielen Sprech-
stunden an, ein Schwerpunkt sind
genetisch bedingte Entwicklungs-
störungen von Kindern.
Der KlinikTicker hat den
4-jährigen Jan* (Name ge-
ändert) – bei dem Jungen
bestehen kognitive Beein-
trächtigungen, ein zu klei-
ner Kopf sowie Auffällig-
keiten von Augen, Gesicht
und Muskulatur – auf dem
Weg durch die Poliklinik begleitet.
Zuvor hatte der Kinderarzt bereits
zahlreiche Untersuchungen veran-
lasst. Erst die Heidelberger Exper-
ten stellten die richtige Diagnose.
Bevor Jan mit seinen Eltern die gemeinsame Spezialsprech-
stunde der Humangenetik und der Neuropädiatrie in der Kin-
derklinik aufsucht, hat er bereits mehrere Untersuchungen
hinter sich, die nicht zu einer Diagnose führten. Auch eine vom
Kinderarzt angeforderte Chromosomen-Analyse – vom Labor
für Zytogenetik im Institut für Humangenetik durchgeführt –
brachte bei dem Vierjährigen ein unauffälliges Ergebnis.
Jan wird daraufhin am Universi-
tätsklinikum Heidelberg vorge-
stellt. Hier gibt es für solche Fälle
ein Zentrum für Seltene Erkran-
kungen, ein Zusammenschluss
spezialisierter Mediziner und
Wissenschaftler verschiedener
Fachrichtungen. Die Erstuntersu-
chung erfolgt im Zentrum für Syn-
dromale Entwicklungsstörungen
in der neuropädiatrisch-gene-
tischen Sprechstunde durch die
Neuropädiaterin Dr. Stephanie
Karch (li.) und die Humangeneti-
kerin Dr. Nicola Dikow. Die kli-
nische Untersuchung, die Vorbe-
funde besonders an den Augen
und die Erfahrung der Mediziner
lassen den Verdacht eines Co-
hen-Syndroms aufkommen.
Aufgrund der Verdachtsdiagnose fordern die Heidelberger Experten
in einem externen Labor eine molekulargenetische Analyse an. Die
Sequenzierung – hier ein Ausschnitt aus einer anderen Sequenzie-
rung – zeigt die Veränderungen des COH1-Gens und bestätigt somit
die Vermutung der Mediziner: Der Junge leidet an dem Cohen-Syn-
drom, einer erblich bedingten syndromalen Entwicklungsstörung.
Um das Ausmaß der Erkrankung fest zu stellen, fol-
gen weitere Untersuchungen, z.B. des Blutes und
erneut der Augen. In der Sektion Ophthalmolo-
gische Rehabilitation der Augenklinik stellen Pro-
fessor Dr. Klaus Rohrschneider und sein Team zwei-
felsfrei eine Veränderung der Netzhaut fest.
Sobald die Befunde aller Untersuchungen vorliegen, unterhält sich Dr.
Ute Moog ausführlich mit den Eltern. Leider gibt es noch keine Thera-
pie. Wie kann dem Kind trotzdem geholfen werden? Was bedeutet die
Diagnose für Jans weiteres Leben? Welche Auswirkungen hat die Er-
krankung für die weitere Familienplanung der Eltern? Und gibt es ande-
re betroffene Familien? Trotz der schlechten Nachrichten sind die Eltern
auch froh: Froh, nach einer langen Phase der Ungewissheit endlich zu
wissen, an welcher Krankheit ihr Kind leidet.
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>> Info
Das
Cohen Syndrom
ist ein seltenes, autosomal rezessiv
erbliches Krankheitsbild, das durch Veränderungen im
COH1-Gen hervorgerufen wird. Es ist durch eine Beein-
trächtigung der Entwicklung, geistige Behinderung unter-
schiedlicher Ausprägung, muskuläre Hypotonie und ein
typisches Erscheinungsbild (kleine Körpergröße, Stamm-
fettsucht, charakteristische Gesichtszüge) gekennzeich-
net. Die Persönlichkeit von betroffenen Kindern zeichnet
sich durch Freundlichkeit und Frohmut aus. Wichtiges Kri-
terium ist eine im Kleinkindalter auftretende progressive
Augensymptomatik. Auch eine vorübergehende Abnah-
me der Zahl bestimmter weißer Blutkörperchen mit wie-
derkehrenden Infektionen kann wegweisend sein. Be-
handelt werden nur die Symptome: Betreuung in einem
Augen-Zentrum mit pädiatrischer Erfahrung, Ernährungs-
beratung, psycho-pädagogische Betreuung und Physio-
therapie. Die Lebenserwartung ist nicht eingeschränkt.