Seite 36-37 - Klinikticker Juli - August

Basic HTML-Version

37
EURAT ist es, ethische und rechtliche Pro-
bleme, die aufgrund der genomweiten Se-
quenzierung entstehen, präzise darzustel-
len und zu analysieren, Stellungnahmen
und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Der
Arbeitsgruppe gehören neben den beiden
Initiatoren Claus Bartram und Klaus Tanner
Wissenschaftler verschiedener geistes-
und naturwissenschaftlicher Disziplinen
an. Neben der Universität und dem Univer-
sitätsklinikum sind auch das Deutsche
Krebsforschungszentrum, das Europäische
Labor für Molekularbiologie und das Max-
Planck-Institut für ausländisches und öf-
fentliches Recht und Völkerrecht beteiligt.
Ein Beispiel für die vielen Fragen, die es zu
beantworten gilt, ist der informed consent,
die rechtlich wirksame „informierte Einwil-
ligung“ des Patienten, die vor jeder dia-
gnostischen und therapeutischen Maß-
nahme einzuholen ist. „Wie soll die
Vorabaufklärung eines Patienten ange-
sichts aller möglichen, mehr oder weniger
relevanten Befunde, die den Betreffenden
nach der Totalsequenzierung seines Ge-
noms erwarten, gelingen?“, fragt Bartram.
Ein anderes Problemfeld ist, wie mit dem
Recht auf Nichtwissen des Patienten um-
gegangen werden soll, etwa in Fällen wie
der Erbkrankheit Chorea Huntington: Eine
Erbgutanalyse kann sie zweifelsfrei vo-
raussagen; es ist aber nicht möglich, ihr
vorzubeugen oder sie zu behandeln. Auch
die Genauigkeit und Aussagekraft der ex-
perimentell gewonnen Daten und ihre In-
terpretation stehen noch auf dem Prüf-
stand oder wie der Datenschutz zu
gewährleisten ist. „Wenn wir nicht von der
Macht des Faktischen überrollt werden
wollen“, sagt Bartram, „müssen wir den
Diskussionsprozess dazu mit Vorrang in
Gang halten.“ Das EURAT-Projekt des Mar-
silius-Kollegs der Universität Heidelberg
ist ein wesentlicher Beitrag dazu.
36
Humangenetik im geisteswissenschaftlichen Kontext
Schon in naher Zukunft wird es
möglich sein, das Erbgut jedes
Menschen innerhalb kurzer Zeit
vollständig zu entziffern. Weder
die Experten, noch die Gesell-
schaft sind jedoch auf die damit
einhergehenden ethischen und
moralischen Herausforderungen
vorbereitet. Das Projekt „Ethische
und rechtliche Aspekte der Total-
sequenzierung des menschlichen
Genoms“ des Marsilius-Kollegs
der Universität Heidelberg will Lö-
sungsvorschläge erarbeiten.
„Der Fortschritt der Wissenschaft ist ab-
hängig von neuen Methoden, neuen Ent-
deckungen und neuen Ideen – und zwar
vermutlich in dieser Reihenfolge.“ Trifft der
Gedanke des Nobelpreisträgers Sydney
Brenner von den Methoden zu, die die mo-
dernen Lebenswissenschaften antreiben,
werden neue molekularbiologische Unter-
suchungstechniken – allen voran die soge-
nannten Sequenzierverfahren der näch-
sten Generationen – einen nie zuvor für
möglich gehaltenen Erkenntnis- und Ide-
engewinn erbringen. Das gesamte Erbgut
(Genom) eines Menschen kann mit dem
„Next-Generationen-Sequencing“ inner-
halb weniger Tage für vergleichsweise we-
nig Geld erfasst werden. Vom „Tausend-
Dollar-Genom“ wird gesprochen – noch vor
fünf Jahren waren dafür eine Million Dollar
nötig. Die genetischen Grundlagen vieler
Krankheitsbilder, so die Hoffnung, lassen
sich auf diese Weise präzise erfassen,
neue Krankheitsgene entdecken, die Ge-
sundheitsrisiken von Menschen voraussa-
gen und eine individuell auf die genetische
Ausstattung eines Patienten ausgerichtete
Medizin entwickeln. In der Forschung wer-
den derzeit schon die kompletten Erbgut-
sätze von tausenden Menschen analysiert,
in Heidelberg geschieht dies im Deutschen
Krebsforschungszentrum und im Europä-
ischen Laboratorium für Molekularbiolo-
gie. Auch in die Kliniken wird die neue Se-
quenziertechnik bald einziehen, private
Firmen bieten schon heute an, genomische
Profile zu erstellen. „In Bezug auf die kli-
nische Anwendung“, sagt Professor Claus
Bartram, Direktor des Instituts für Human-
genetik in Heidelberg, „sind jedoch we-
sentliche Fragen offen.“
Weder die Experten noch die Gesellschaft
seien auf die ethischen und moralischen
Herausforderungen vorbereitet, die mit der
umfassenden Genomsequenzierung ein-
hergehen, erklärt Professor Dr. Klaus Tan-
ner vom Wissenschaftlich-Theologischen
Seminar der Universität Heidelberg. Tan-
ner ist Sprecher von EURAT, dem Projekt
„Ethische und rechtliche Aspekte der To-
talsequenzierung des menschlichen Ge-
noms“ des Marsilius-Kollegs der Universi-
tät Heidelberg, kurz EURAT. Das Ziel von
Kompletter Erbgutcheck
für alle – und dann?
Das gesamte Erbgut (Genom) eines Menschen kann be-
reits in naher Zukunft in nur wenigen Tagen erfasst werden.
Mit den ethischen und moralischen Herausforderungen
dieser Entwicklung befasst sich die EURAT-Arbeitsgruppe
des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg.
„Seit 2003 ist die Sequenzierung
des kompletten menschlichen
Genoms möglich. Allerdings
bleiben wesentliche Fragen offen,
die zwischen Forschern, Juristen,
Ökonomen und Ethikern geklärt
werden müssen.“
Prof. Dr. Klaus Tanner vom Wissenschaftlich-Theologischen
Seminar der Universität Heidelberg, Sprecher des Projekts EURAT
„Der sicherste Datenschutz wäre das
Nichtwissen. Doch dieser Verzicht ist
dem Menschen in seiner Neugierde
und seinem Erkenntnisstreben wohl
kaum gegeben.“
Paul Kirchhof, Professor für öffentliches Recht an der Universität
Heidelberg und Mitglied der EURAT-Arbeitsgruppe
Chorea Huntington, eine neuro-degenerative Erkrankung, die meist um das 40. Lebensjahr
auftritt und nicht heilbar ist, wird autosomal-dominant vererbt. Das die Krankheit verursa-
chende Gen lässt sich auf dem vierten Chromosom nachweisen – doch ist dies überhaupt
im Sinne des Patienten? Wie geht man mit dem Recht auf Nichtwissen um? Viele ethisch-
moralischen Fragen aus dem Bereich der Erbgutanalyse sind noch nicht geklärt.