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Mal Schutzengel, mal Tyrann

Am 25. April machte „Medizin am Abend“ chronische Schmerzen zum Thema – Wie sie entstehen und was hilft – Knapp 300 Menschen hörten zu

„Wie wäre ein ganzes Leben ohne Schmerz?“ Diese Frage warf die Pharmakologie- Professorin Rohini Kuner gleich zu Anfang des Abends auf. Für das Publikum lag die Antwort auf der Hand. „Besser!“, riefen einige der vielen Medizin- Interessierten, die sich im Hörsaal der Kopfklinik eingefunden hatten – aber dass es nicht so einfach ist, ist nur eine von vielen Erkenntnissen des spannenden Abends. Knapp 300 Menschen waren zur jüngsten Folge von „Medizin am Abend“ gekommen, jener beliebten Reihe, die die Rhein-Neckar-Zeitung und das Universitätsklinikum gemeinsam ausrichten. Thema diesmal: chronische Schmerzen, ein Volksleiden, das etliche Menschen plagt. Dazu gaben gleich zwei Heidelberger Wissenschaftler Einblicke in ihre Forschung. Während die diesjährige Leibniz-Preisträgerin Kuner darauf einging, welche Rolle das Nervensystem beim Schmerzempfinden spielt, stellte der Psychosomatiker Prof. Jonas Tesarz vor, inwieweit es von Vorerfahrungen geprägt ist. Dabei versorgten sie die Zuhörer mit jeder Menge Fachwissen genauso wie mit kuriosen Anekdoten, sodass der Abend wie im Flug verging. Ein Leben gänzlich ohne Schmerzen – um auf die Eingangsfrage zurückzukommen – wäre jedenfalls nicht sonderlich erstrebenswert, wie Kuner dem Publikum mit auf den Weg gab: weil sie uns nicht nur vor den Gefahren des Alltags, sondern auch vor massiven Selbstverletzungen schützen. Ohne Schmerzempfinden, so die Pharmakologin, würden sich schon Babys die Lippen zerbeißen. „Der Schmerz ist Schutzengel und Tyrann“, resümierte sie. 

Ihr tyrannisches Gesicht zeigen Schmerzen vor allem dann, wenn sie chronisch werden – erst recht, wenn sie unabhängig von der ursprünglichen Verletzung fortbestehen. Dazu kann es kommen, wenn sich die neuronalen Verbindungen im Nervensystem verändern, was Fachleute als Plastizität bezeichnen. Wenn sich geschädigte Nerven fehlerhaft regenerieren, kann es sehr unangenehm werden: etwa wenn Schmerzfasern auf einmal mit dem Tastsinn gekoppelt sind und dann selbst eine leichte Berührung der Haut furchtbar weh tut. Medikamente können das Problem bisher allzu oft nicht lösen. „Wir haben einen Bedarf an Pharmaka, die die Plastizität rückgängig machen“, beschrieb Kuner ihr Forschungsfeld. 

Vom Alkohol bis zum Opium: Seit jeher nutzen Menschen Mittel, um ihre Schmerzen zu lindern. Doch das Phänomen ist derart komplex, dass auch Psychotherapien zum Einsatz kommen. Einen Eindruck davon, dass Schmerzen als Forschungsthema auf ihre eigene Art faszinierend sind, vermittelte der Arzt Tesarz anhand von Fällen aus der Forschungsliteratur. Darin findet sich die Leidensgeschichte eines Architekten, der nach einem Bandscheibenvorfall zum chronischen Schmerzpatienten wird. Das Erstaunliche: Eines Tages hatte er nach einer Bewusstlosigkeit mit seinem Gedächtnis auch seine Schmerzen verloren. Und in dem Moment, in dem er sein Gedächtnis später wiederfand, kehrten auch die Schmerzen zurück. 

Unser Gehirn hat keinen direkten Zugriff auf die Schädigung des Körpers, es reimt sie sich anhand von Informationen aus dem Körper zusammen“, erklärt Tesarz, was das Schmerzempfinden beeinflusst. Dabei kommt dem Vorwissen und der Vorerfahrung eine große Bedeutung zu. „Das Schmerzsystem funktioniert wie eine Alarmanlage, die den Körper sichert“, berichtete der Psychosomatiker. Und sämtliches Vorwissen entscheide darüber, wie scharf sie geschaltet sei. Das untermauerte er mit dem Erlebnis eines Bauarbeiters, der versehentlich in einen langen Nagel sprang. Der Nagel durchbohrte den Schuh, der Mann litt schreckliche Schmerzen. Später zeigte sich: Der Nagel hatte wie durch ein Wunder seinen Weg exakt durch die Lücke zwischen erstem und zweitem Zeh gefunden – bis auf eine leichte Abschürfung der Haut war keine Verletzung zu sehen. Auch Kindheitserfahrungen beeinflussen das Schmerzempfinden, berichtete der Mediziner, bevor das begeisterte Publikumseine Fragen stellen konnte. Bei traumatischen Erlebnissen sei das Risiko zwei- bis dreimal höher, zum Reizdarm oder Fibromyalgie-Patienten zu werden, so Tesarz. Die vielbeschworene personalisierte Medizin brauche es daher auch in der Schmerztherapie: „Nicht jeder Patient ist gleich zu behandeln.“ 

 

Beitrag: Julia Lauer, RNZ

Impressionen des Abends

Referenten

Professorin Rohini Kuner
Direktorin des Instituts für Pharmakologie an der Medizinischen Fakultät Heidelberg

Portrait von Prof(apl). Dr. med. Jonas Tesarz

Professor Jonas Tesarz
Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am UKHD