Gedankensteuerung der Greiffunktion bei Tetraplegikern
Die Folgen einer Querschnittlähmung sind insbesondere für tetraplegische Patienten dramatisch. Denn neben dem Verlust der Beinbewegung müssen sie auch mit Einschränkungen der Arm- und Handfunktion leben. Da es bisher keine medikamentöse Therapie zur Heilung gibt, wird zur Wiederherstellung der Greiffunktion die Funktionelle Elektrostimulation (FES) in Form von Neuroprothesen eingesetzt. Die Steuerung erfolgt momentan über noch verbliebene Hilfsbewegungen. Um den Anwendungsbereich von Neuroprothesen auf Höchstgelähmte erweitern zu können, haben wir die Kopplung eines FES-Systems mit einem Brain-Computer Interface (BCI) zur Gedankensteuerung realisiert - in Kooperation mit dem Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen, Laboratory of Brain-Computer Interfaces (Prof. Dr. G.R. Müller-Putz) der Technischen Universität Graz. Grundlegend ist für die Funktionsfähigkeit eines Brain-Computer Interface, dass nicht nur bei der Ausführung einer Bewegung in bestimmten Regionen des Gehirns Aktivitäten entstehen, sondern bereits bei der bloßen Vorstellung dieser Bewegungen.
Methoden
Das eingesetzte System besteht aus einem nicht-invasiven BCI und einer Orthese in Kombination mit der FES. Das BCI dient als Kontrollsignal, mit der FES-Orthese können Bewegungen ausgeführt bzw. eine bestimmte Armgelenkposition gehalten werden. Bei der FES werden Armnerven durch Stromimpulse stimuliert, so dass eine Kontraktion der entsprechenden Muskeln ausgelöst wird. Zusätzlich wird dieser Mechanismus durch eine Orthese unterstützt, um Ermüdungserscheinungen vorzubeugen und Bewegungsabläufe zu unterstützen. Eine Orthese ist eine Art Ärmel, der von außen mechanische Kräfte auf den menschlichen Körper übertragen kann. Zusätzlich zum BCI werden noch willkürliche Schulterbewegungen als weiteres Kontrollsignal herangezogen (sog. Hybrid-BCI). Die Systemkomponenten werden auf den neurologischen und muskulären Status des jeweiligen Patienten und seinen unterschiedlichen Bedürfnissen abgestimmt.
Bei den an der Studie teilnehmenden tetraplegischen Patienten mit fehlender willkürlicher Aktivierung der Hand- und Fingermuskeln (bei manchen auch des Bizeps) wird über eine vierkanalige Oberflächenstimulation der Schlüsselgriff und der Zylindergriff wieder alltagstauglich hergestellt. Über einen kleinen Motor wird die Armbeugung und -streckung realisiert, sollte diese nicht willkürlich möglich sein.
Für das BCI wird das EEG von Elektroden an den Positionen C3 (rechte Handregion), C4 (linke Handregion) und Cz (Fußregion) abgeleitet, verstärkt und an einen PC weitergeleitet. Die Bandleistungen werden dann in Echtzeit aus patientenspezifischen Frequenzbändern berechnet und mit einer linearen Diskriminanzanalyse (LDA) klassifiziert. Werden nun vorgestellte Fußbewegungen mittels LDA und Schwellwertdetektor erkannt, erfolgt eine Umschaltung zwischen Hand- und Armkontrolle. Den Grad der Handöffnung und der Armhebung kann der Patient über seine Schulterbewegung steuern.
Ergebnisse
Die Stärke des stimulierten Griffs reicht aus, damit die teilnehmenden Patienten einfache Alltagsaufgaben ausführen können (ein Dokument unterschreiben, Käsestange oder ein Eis essen). Durch das gezielte Auslösen von Kokontraktionen der Daumenbeuger und -strecker kann auf eine Platzierung von Elektroden auf der Handinnenfläche verzichtet werden. Das erhöht wiederum die Alltagstauglichkeit der FES.
Die teilnehmenden Patienten waren generell mit der Benutzung zufrieden; einer konnte sich vorstellen, das System regelmäßig zu benutzen. Die Anstrengung während der Benutzung wird als moderat eingestuft. Schlechter abgeschnitten haben die Komplexität des Systems und die benötigte Zeit zum Anlegen.
Schlussfolgerungen
Im Rahmen dieses Projektes haben wir gezeigt, dass die Greiffunktionswiederherstellung bei hochgelähmten Menschen mittels gedankengesteuerter, nichtinvasiver FES-Orthese möglich ist. Die Kraft und der funktioneller Zugewinn unterscheiden sich dabei kaum von invasiven Systemen. Die meisten der teilnehmenden tetraplegischen Patienten konnten unter zu Hilfenahme ihrer "Gedanken" einen Gegenstand des alltäglichen Lebens selbstständig greifen und bewegen. Allerdings empfehlen wir, das verwendete BCI nur dann als Kontrollmöglichkeit heranzuziehen, wenn andere Möglichkeiten ausgeschöpft wurden und eine Kontrollgenauigkeit von mindestens 70% erreicht wird.
Die Verwendung eines “Elektrodenärmels” verkürzt die Zeit zum Anbringen der Stimulationselektroden und ermöglicht es, ein reproduzierbares Greifmuster zu erreichen. Gerade sind wir mit der Markteinführung dieses Systems beschäftigt und hoffen, die ausgefallene Handfunktion von bestimmten Tetraplegikeren damit wieder herstellen zu können.
Zurzeit ist die Steuerung per BCI weit von einer natürlichen Steuerung entfernt. Daher wäre es ein großer Fortschritt, wenn sich Bewegungsabsichten nichtinvasiv aus dem Elektroenzephalogramm (EEG) ableiten ließen. Erste Experimente hinsichtlich Machbarkeit einer Echtzeit-Bewegungsdekodierung werden momentan von uns durchgeführt.
Weiterführende Informationen finden Sie unter
Publikationen
Pfurtscheller G., Müller G.R., Pfurtscheller J., Gerner H.J., Rupp R.: “Thought”- control of functional electrical stimulation to restore hand grasp in a patient with tetraplegia, Neuroscience Letters 351, 33 – 36, 2003
Rupp R., Gerner H.J.: Neuroprosthetics of the upper extremity – Clinical application in spinal cord injury and future perspectives, Biomedizinische Technik 49(4), 93-98, 2004
Müller-Putz G.R., Scherer R., Pfurtscheller G., Rupp R.: Brain-Computer Interfaces for control of neuroprostheses: From synchronous to asynchronous mode of operation, Biomedizinische Technik 51(2), 57-63, 2006
Rupp R., Müller-Putz G.R., Pfurtscheller G., Gerner H.J., Vossius G.: Evaluation of control methods for grasp neuroprostheses based on residual movements, myoelectrical activity and cortical signals, Biomedizinische Technik 53, Suppl. 1, 54-56, 2008